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木漏れ日 Komorebi: Sonnenlicht, das durch die Bäume dringt


Es war ein warmer Frühlingstag und obwohl es erst vor wenigen Stunden heftig geregnet hatte, haben sich sämtliche Wolken still und heimlich verabschiedet - als ihr einziges Andenken blieb der Duft von Petrichor zurück, der noch in der Luft hing.

Ich saß auf einer Holzbank im Hofgarten und entwarf Skizzen in meinem grünen Notizbuch, das herrlich nach Leder roch. Als ich den Stift zur Seite legte, fiel mein Blick auf die Allee einige Meter entfernt zu meiner Rechten, in der sich Jung und Alt regelmäßig zum Bocciaspielen treffen. Eine polierte Metallkugel blendete mich, als sie im Zenit ihrer Flugbahn stand, bevor sie an Höhe verlor und schließlich beim Aufprall eine weitere wegstieß. Eine dumpfe Vibration durchlief meinen Körper. Den Gesichtsausdrücken der Schaulustigen und der emotionalen Reaktion des jüngeren Spielers zufolge muss das wohl ein herausragender Stoß gewesen sein. 
Mein Blick wanderte weiter nach links - an der blühenden Sommerlinde vor mir vorbei, zwei Bänke weiter, wo sich ein junges Paar verliebt in den Armen lag und gemeinsam in einem Buch las. Die Welt um sie herum schien für sie nicht zu existieren.
Als ich mich wieder meinen Skizzen widmen wollte, zog plötzlich ein kühler, starker Westwind vorbei, der die Blätter des Baumes zum Tanzen brachte. Ich beobachtete jenes Spiel aus Licht und Schatten, das durch die Baumkrone fiel, als plötzlich ein stechendes Pfeifen in meine Ohren drang, wie ich es so noch nie zuvor gespürt hatte. Es fühlte sich an, als würde mein Kopf geteilt. Die Augen geschlossen und die Hände an den Ohren krümmte ich mich nach vorne und wollte schreien, doch kein Ton verließ meinen Mund - nur Spucke. Als der Schmerz nachließ, öffnete ich langsam wieder die Augen und hob mein Notizbuch vom Kiesboden auf. Noch etwas benommen nahm ich zwei kleine baumelnde Füße neben mir wahr. Ich richtete mich auf und schaute zu meiner Linken, um überraschend festzustellen, dass auf einmal ein kleines Mädchen neben mir saß.

Ich schätzte sie auf zwölf Jahre, sie hatte gerades, pechschwarzes Haar, das bis über ihre vollen Backen reichte. Sie trug ein knielanges blassgelbes Kleid, knöchellange weiße Socken und dazu schwarze Mary Janes. Fröhlich grinste sie vor sich hin, und als sich unsere Blicke trafen entwich ihr ein herzliches „Hallo!“.

„Hallo“, gab ich verblüfft zurück.
„Ich heiße Yumiko.“
„Es ist mir eine Freude, Yumiko“, antwortete ich schmunzelnd. Ihre fröhliche Natur war ansteckend.
„Es ist wunderschön, nicht wahr?“, sie zeigte mit dem Finger auf das Komorebi. „Der Baum…der redet so mit mir.“

Nach einem kurzen Schweigen beschloss ich, mitzuspielen und fragte schließlich: „Was sagt er denn?“
”Er sagt: Das Leben ist wie ein ganz großer Baum…und jeder Mensch ist wie ein Blatt.“
„Eine schöne Vorstellung“, erwiderte ich.
„Sag mal, was passiert, wenn ein  Mensch dann tot ist?“, fragte sie mich.
Ich zögerte. „Ich vermute mal, dass das Blatt zu Boden fällt.“
Sie nickte ernst. „Genau! Und wenn das Blatt auf dem Weg nach unten einen anderen Menschen berührt … dann piepst es in seinen Ohren. So wie bei dir.“

Ich sah sie an, überrascht.

Sie fuhr fort: „Weil Bäume und Menschen zusammengehören. Wir haben die gleichen Muster. Den gleichen Anfang. Irgendwo auf dieser Welt gibt es einen Baum, der am selben Tag geboren ist wie du und mit dir wächst.”
Ich blickte zur Sommerlinde. „Ist das dein Baum?“
Ihre Augen leuchteten. „Ja! Deswegen kann ich ihn hören.“

Yumiko sah plötzlich nach oben und sagte leise: „Hörst du das auch?“
Ich folgte ihrem Blick und lauschte – nichts. Nur das Rauschen der Blätter und das entfernte Klacken einer Boccia-Kugel. Es wurde windstill.

Als ich wieder neben mich schaute, war sie verschwunden. An ihrer Stelle lag nur ein kleines gelbes Blatt.